Pfleger mit Stoppuhr?

Neue Vorgaben für Dokumentationspflicht in psychiatrischen Einrichtungen sorgen für Verärgerung an der Rheinhessen-Fachklinik

Von Jan Haugner

ALZEY Als Pflegedirektor an der Rheinhessen-Fachklinik (RFK) hat Frank Müller schon so manches Außergewöhnliche erlebt, bald droht ihm aber ein Kuriosum, dass er sich so niemals ausgemalt hätte. „Wenn wir das so umsetzen, kann bald in jeder psychiatrischen Gruppe ein Pfleger mit Stoppuhr sitzen und messen, welcher Patient wie viel Zeit bekommt“, erklärt er. Grund für seinen Ärger ist ein Beschluss, den der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) vor Kurzem getroffen hat. Der Selbstverwaltungsausschuss der gesetzlichen Krankenkassen und Krankenhäuser hat beschlossen, dass ab 1. Januar 2020 Personal und Arbeitszeit in psychiatrischen Einrichtungen haargenau dokumentiert werden müssen.

„Jede Minute geht dem Patienten verloren“

Die Ergebnisse wären laut Pflegedirektor für die RFK und ähnliche Einrichtungen kein Problem – aber die Erhebung. „Jede Minute, die sie dieser Aufgabe schenken, geht einem Patienten verloren“, erklärt Dr. Markus Mai, Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz. Schon jetzt sind Pflegekräfte bundesweit unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. Das demonstrierten sie zuletzt auch vor zwei Wochen vor den Toren von Alzeys größtem Arbeitgeber. Die Verdi-Demo richtete sich dabei aber nicht gegen den Arbeitgeber, sondern gegen die Bedingungen, die dieser zur Verfügung gestellt bekommt.

Noch gilt in Deutschland die Psychiatrie Personalverordnung kurz Psych-PV. Dass diese und ihr Personalschlüssel veraltet sind und beispielsweise keine studierten Pflegekräfte kennt, hat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erkannt. Um die Unzufriedenheit in der Pflege zu beheben, sollte eigentlich bis zum 1. Januar nächsten Jahres eine neue Verordnung erlassen werden. Deshalb wurde der renommierte Psychologe Hans-Ulrich Wittchen beauftragt, in 100 Psychiatrien eine Erhebung durchzuführen und den Bedarf an Personal festzustellen. „Das Ergebnis war, dass rund 15 bis 20 Prozent mehr Personal ideal wären“, erklärt Frank Müller. Vonseiten der Krankenkassen, also der Kostenträger, wurden dem Fachmann aber unsaubere Methoden bei der Erhebung vorgeworfen. Da Wittchen seine Arbeit nicht verteidigen konnte, wurde die Studie nicht angenommen. Mittlerweile wurde aber schon die Abschaffung der Psych-PV zum 1. Januar gesetzlich beschlossen, sodass sich die RFK einem Vakuum ausgesetzt sieht.

Da hinein sind jetzt die Kostenträger vorgestoßen und haben im G-BA durchgesetzt, dass das eingesetzte Personal und dessen Aufgaben genau dokumentiert werden müssen. „Ich hätte nie gedacht, dass das durchkommt, das hat keinen Nutzen“, sagt Frank Müller schockiert. Auch Markus Mai ist entsetzt von der Vorgabe und spricht von einer „Misstrauenskultur der Krankenkassen“. Zwar gebe es einige schwarze Schafe, aber die Maßnahme misstraue den Pflegekräften, die unter schwersten Bedingungen ihr Möglichstes täten.

Der überraschende Beschluss lässt die RFK ohne Plan B dastehen. Eine Erfassung der Leistungen, die für verschiedene psychiatrische Arbeitsbereiche erbracht wird, hätte Frank Müller akzeptieren können. Allerdings nehmen nicht nur Psychiatrie-Patienten das entsprechende Angebot wahr. So wird zum Beispiel die Suchthilfe auch von anderen Behandelten der RFK wahrgenommen. Stand jetzt muss ab 1. Januar genau dokumentiert werden, wie viel Zeit auf die Patienten der anderen Bereiche aufgewendet wird. Beispielsweise einfach 60 Minuten auf die Anwesenden umzurechnen ginge nicht, die Betreuungsdauer jedes Patienten einer anderen Abteilung müsste genau erfasst werden. Dass sich daran rechtzeitig noch etwas ändert, glaubt Mai nicht. Auch Müller, der das Thema an die Politik herantragen will, ist pessimistisch.

Zu spät wäre es ohnehin schon, denn der Beschluss wirkt sich bereits jetzt aus. Die Mitarbeiter müssen auf die neuen Aufgaben vorbereitet und Software muss zur Erfassung bereitgestellt werden. Auch muss Personal zur Vorbereitung ausgeplant werden. Einen Ausgleich für die fehlenden Kräfte kann es nicht geben, denn die Krankenkassen honorieren den Mehraufwand nicht. Für Markus Mai und Frank Müller zeigt sich darin ein Grundproblem der G-BA: „Da werden Entscheidungen, die die Pflege betreffen, getroffen, ohne dass sie am Tisch sitzt.“

Allgemeine Zeitung, 24. September 2019

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